Hirntod und seine Bedeutung
Lothar Ludwig führte das Interview mit Karl-Eugen Siegel, stellv. Bundesvorsitzender des SHV – FORUM GEHIRN e.V.
Wir durften nicht aufgeben! Das Buch erschien 1993 im Gütersloher Verlagshaus.
„Ein Vater schildert die letzten Monate der Schwangerschaft seiner hirntoten Frau und die Geburt seines Sohnes.
Ende 1992 sorgte der Fall des >>Erlanger Babys<< für eine kontroverse Diskussion der Frage, ob die Körperfunktionen einer hirntoten Schwangeren aufrechterhalten werden dürfen, um das Leben des Kindes zu retten. Im Fall Gaby Siegel hat sich ihr Ehemann in der Gewißheit einer tiefen Verbundenheit mit seiner Frau dafür entschieden. Sein ergreifendes Tagebuch schildert den positiven Verlauf, aber auch die Tragik dieser Schwangerschaft.“
(entnommen dem Cover des Buches, welches zurzeit vergriffen ist)
Hirntod und seine Bedeutung
Karl-Eugen, das persönliche Erleben als betroffener Ehemann mit dem Hirntod war etwas sehr Bewegendes. Wie siehst Du Deine persönliche Situation von 1991 aus heutiger Sicht?
„Gott sei Dank“ hatte ich im ganzen Verlauf unserer Geschichte immer die Hoffnung, dass meine Frau wieder aufwachen würde, ungehindert der Hirntoddiagnose. Sie war ja keine Leiche sondern sie war gut durchblutet, sie trug ja nicht nur unseren Sohn im Bauch, sondern sie ernährte ihn und versorgte ihn mit Sauerstoff. Ich verabreichte ihr täglich eine passierte Sondennahrung, die sie dann auch wieder ausschied – alles sichtbare Funktionen des Lebens.
Karl-Eugen, in der Sendung stern TV vom 14. Januar 2015 waren Prof. Walter F. Haupt, Neurologe und Intensivmediziner und Dr. Paolo Bavastro, Facharzt für Kardiologie als Experten mit Dir in der Diskussion. Wie erklärst Du Dir die gegensätzlichen Ansichten über den Hirntod der Experten?
Herr Dr. Bavastro war in unserem Schicksal involviert und hat meine Frau aus medizinischer Sicht begleitet. Diese hautnahe und tägliche Begegnung mit seiner Patientin, die für eine Geburt vorbereitet wurde, führte ihm täglich vor Augen, dass es sich um keine Leiche sondern allenfalls um „eine im Sterbeprozess befindliche Patientin“ handelt.
Herr Prof. Haupt hat sicherlich in seiner langen Berufstätigkeit als Intensivmediziner viele Patienten behandelt, die in den Zustand des Hirntodes entgleist sind. Um dann sowohl die Therapien einzustellen und die Entscheidung über eine Organentnahme zu fällen, musste er sich auf die 1968 erarbeiteten Richtlinien berufen und diese anwenden. Das ist aus juristischer Sicht unerlässlich – denn ansonsten würde die Entnahme von Organen die Tötung des Patienten bedeuten.
Die beiden gegensätzlichen Ansichten kommen einfach dadurch zustande, dass Prof. Haupt den Zustand seines Patienten als unumkehrbar diagnostiziert (Hirntod) und ihn solange am Leben erhält, bis die Organe entnommen werden können. Hier ist das Ziel, durch die Organentnahme einem ebenfalls todkranken Menschen das Leben, mit allen dazugehörigen Einschränkungen, zu verlängern. Dr. Bavastro hingegen hatte den Fokus auf seine Patientin gerichtet und sah ihren kritischen Zustand, auch dass sie im Sterben lag. In unserem Fall hatte er sogar noch die Mitverantwortung für das heranwachsende Kind.
Der bei meiner Frau diagnostizierte Hirntod hatte für sie ganz persönlich keine negativen Folgen, denn sie wurde am Leben gehalten um unseren Sohn auszutragen. Ansonsten wären, da sie keine Organspenderin war, die Maschinen abgestellt worden.
Karl-Eugen, seit langer Zeit ist das Thema einer Organentnahme bei einem Hirntoten in unserer Gesellschaft präsent. Die Diskussionen um den Hirntod verunsichert gegenwärtig immer mehr. Was muss aus Deiner Sicht getan werden, damit bestehende Ängste für eine Organentnahme abgebaut werden?
Ehrlichkeit! – Ich fordere seit Jahren, dass ganz deutlich erklärt wird, dass ein Mensch, der eindeutig als hirntot diagnostiziert ist, KEIN Leichnam ist, sondern ein Patient, der gegenwärtig medizinisch nicht am Sterben gehindert werden kann. Dieser Mensch lebt aber noch.
Da sein Zustand nicht umkehrbar ist, d.h. dass er nicht mehr ins bewusste Leben zurückzubringen ist, ist es mehr als nur ein Geschenk, wenn dieser Mensch seine Organe für andere spenden will. Ich glaube hier wird dann auch deutlich, dass diese Entscheidung für oder gegen eine Organspende ausschließlich vom Spender gefällt werden kann.
Allein die Ehrlichkeit um diesen Sachverhalt schafft Vertrauen und lässt Diskussionen nach der Art der Zustimmung (enge, erweiterte Zustimmungslösung oder gar Widerspruchslösung) verstummen. Es würde doch niemand auf die Idee kommen, dass Angehörige eines Lebendspenders über diesen entscheiden sollen oder gar müssen. Auch die Frage des würdevollen Umgangs mit Menschen im Hirntod wäre keine mehr, denn es ist ein lebender Mensch.
Ehrlichkeit auch darüber, was die Risiken und Nebenwirkungen beim Organempfänger anbelangt, würde die Verunsicherung deutlich reduzieren. Die derzeitige Aufklärung durch die Deutscher Stiftung Organtransplantation (DSO), der Koordinierungsstelle für Organspenden in Deutschland aber auch durch die staatliche Stelle, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), verherrlichen einseitig die Organspende. Vor allem die BzgA, die eigentlich verpflichtet ist neutral und umfassend zu informieren, stellt nicht nur die Hirntoddiagnostik als absolut sicher dar, sondern geht weder auf die Probleme bei den Angehörigen nach der Entscheidung für die Organentnahme noch auf die der Organempfänger ein. Das ist keine Neutralität, die der Bürger von einer staatlichen Aufklärungsstelle erwarten kann.
Hier wird Vertrauen mit den Füßen getreten! – und genau das führt zu der schon jahrelang andauernden Verunsicherung. Meiner Meinung nach zu Recht.
Mein Appell sowohl an die DSO, die BzgA, als auch an alle die Werbung für eine Organspende machen: Haben Sie endlich den Mut zu sagen, dass der Hirntote noch lebt und dass wir alles menschenmögliche tun, um die Diagnostik sicher stellen zu können, auch mit neuesten bildgebenden Methoden. Gestehen Sie auch ein, dass das System nicht perfekt ist, da Menschen darin arbeiten – und dann werden Menschen Vertrauen in diese Menschen bekommen und dann auch bereit sein, Teile von sich selbst zu spenden!
Ich danke für das Interview und wünsche Dir alles Gute.
Januar 2015