Seelische Wunden durch Corona: Warum fehlen Schwerst-Hirnverletzte in der Aufarbeitung?

Sozialforschung: Todesfälle während der Pandemie – MHH sucht Hinterbliebene für Interviews

„EMBRACE-ME“ (Umarme mich) lautet der Name des Studienprojekts, mit dem Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) die seelischen Belastungen ergründen wollen, denen Angehörige Sterbender während der Corona-Krise ausgesetzt waren. Die Begleitung Sterbender war während der Corona-Pandemie besonders schwierig: Besuchseinschränkungen und die Sorge vor Ansteckung erschwerten die Betreuung in der letzten Lebensphase erheblich. Viele Angehörige konnten nicht richtig Abschied nehmen, und Trauerfeiern konnten nicht im gewünschten Rahmen stattfinden.

Das Team des Instituts für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin der MHH möchte nun herausfinden, wie Angehörige das Sterben ihrer Verwandten oder Freunde unter Pandemiebedingungen erlebt haben. Gesucht werden volljährige Angehörige, die zwischen März 2020 und Januar 2023 einen nahestehenden Menschen verloren haben und bereit sind, über ihre Erfahrungen zu berichten. Geplant sind ein etwa einstündiges Interview und die Beantwortung eines kurzen Fragebogens. Bei Bedarf werden Dolmetscher für das Interview gestellt. Das Projekt findet in Kooperation mit der Klinik für Palliativmedizin der Universitätsmedizin Göttingen statt.

Angesichts dieser wichtigen Untersuchung stellt sich jedoch die Frage: Warum wird eine solche Aufarbeitung nicht auch für Schwerst-Hirnverletzte und deren Angehörige durchgeführt? „Es ist unverständlich, warum eine Aufarbeitung nicht auch für Schwerst-Hirnverletzte und ihre Angehörigen erfolgt, die während der Pandemie unter massiven Besuchseinschränkungen litten“, sagt Karl-Eugen Siegel, Vorsitzender des SHV-FORUM GEHIRN e.V. Es durfte während der Corona-Zeit oft nur ein Angehöriger den Patienten auch nur einmal pro Woche für eine Stunde besuchen. „Ohne die Unterstützung ihrer Angehörigen war für viele Schwerst-Hirnverletzte eine wirkliche Rehabilitation während der Corona-Zeit nicht möglich. Das ist nicht nur ein Versäumnis, sondern ein Vergehen gegen die Menschlichkeit.“

Hierbei geht es nicht nur um neurologische Traumen, sondern auch um die zusätzlichen seelischen Traumata, die beide Seiten – sowohl die Betroffenen als auch ihre Angehörigen – erlitten haben. „Die neurologischen und seelischen Traumata, die durch die Pandemie-Beschränkungen verursacht wurden, sind sowohl für die Betroffenen als auch für ihre Angehörigen enorm und verdienen eine gründliche Aufarbeitung“, betont Siegel weiter. „So etwas darf nie wieder passieren!“.

Die seelischen Wunden, die durch die strikten Kontaktbeschränkungen während der Pandemie verursacht wurden, verdienen ebenfalls eine gründliche Aufarbeitung und Untersuchung. Eine umfassende Sozialforschung, die auch die Erfahrungen von Schwerst-Hirnverletzten und deren Familien berücksichtigt, ist dringend notwendig, um das gesamte Ausmaß der psychischen und emotionalen Belastungen zu verstehen und künftig professioneller und vor allem menschlicher zu agieren.

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