SHV – FORUM GEHIRN e.V. und das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz IPReG

Zunächst das Wichtigste: Die Regelungen der Richtlinie greifen erst ab dem 01.01.2023. Dennoch wollen wir bereits jetzt aufzeigen, welche Probleme sich für die Zukunft für die Versorgung unserer Betroffenen einstellen können.

Grundsätzlich können wir fest­stellen: Die Richtlinie zur außer­klinischen Intensivpflege stellt für unsere Betroffenen, die schwerst schädel-hirn geschädigten Menschen, einen deutlichen Rückschritt dar. In der früheren Gesetzgebung wurden unsere Betroffenen als Men­schen mit schwersten gesundheitlichen Einschränkungen er­kannt, denen trotz ihrer Einschränkungen ein Leben nach ihren Vorstellungen ermöglicht werden sollte. Mit der Richtlinie wird der Zeitgeist aus der Fla­sche gelassen, den wir längst ver­bannt geglaubt hatten. Während früher die Krankenkassen durch ihre Leis­tungen die Betroffenen bei der Bewältigung ihrer schweren Lebenssituation unterstützten, geht es nunmehr darum nach vielen Gründen zu suchen, warum eine Leistungspflicht der Kran­ken­kassen entfallen soll – oder aber wie die Betroffenen zu leben haben. Und gerade bei neurologisch geschädigten Menschen, die nicht beatmet oder tracheotomiert sind, soll grundsätzlich eine palliativ-me­di­zinische Begleitung er­folgen. Seit mehreren Jahrzehn­ten haben wir immer dafür gekämpft, unsere Betroffenen nicht als Sterbende zu betrachten, sondern als Menschen, die mit ihren Angehörigen jeden Tag aufs Neue tapfer ein schweres Schicksal tragen und damit leben.

Aus der grundlegenden Kritik am Gesetz und an der Richtlinie zeichnen sich in der konkreten Umsetzung weitere Probleme ab. Problematisch ist zunächst, dass nach der Richtlinie nicht mehr jeder Hausarzt verordnungsberechtigt ist. Nach der Richtlinie sollen zukünftig nur Hausärzte, die über eine Wei­ter­bildung verfügen, Verordnungen zur Intensivpflege aus­stellen dürfen. Wir wissen aus der Praxis, dass es für viele Betroffene schon zu diesem Zeit­punkt eine Herausforderung ist, einen Hausarzt zu motivieren, eine Verordnung aus­zustellen. Hausärzte ver­sorgen unsere Betroffenen oftmals nur widerwillig, weil die Verordnungen sehr aufwendig sind und die Hausärzte für die­sen erheblichen Aufwand keine zusätzliche Vergütung erhalten. Wenn zukünftig besondere Kenntnisse verlangt werden, um eine Verordnung auszustellen, steht zu befürchten, dass viele Hausärzte sich aus der Betreuung unserer Betroffenen zurückziehen werden. Für den Fall, dass kein verordnender Arzt gefunden werden kann, sieht die Richtlinie aber kein Verfahren vor, wie gewährleistet werden kann, dass unsere Betroffenen ihre berechtigten Leistungsansprüche erfüllt bekom­men.

Auch im Bereich Begutachtung bleibt Vieles weiterhin im Un­klaren. Zurzeit soll der MD auch bauliche Voraussetzungen und die Gewährleistung der medizinischen und pflegerischen Ver­sor­gung prüfen. Die von uns im Rahmen des Stellungnahmever­­fahrens eingebrachten Än­der­ungsvorschläge wurden vom Gemeinsamen Bundesaus­schuss nicht berücksichtigt. Wir vertreten die Auffassung, dass bauliche Voraussetzungen solange hinreichend sind, solange eine Pflegefachkraft die pflegerische Versorgung leisten kann und auch bereit ist diese zu erbringen. Mit anderen Worten: Solange unsere Betrof­fenen pflegerisch versorgt wer­den, geht es den MD nichts an, wie die Räumlichkeiten aussehen.

Bei der Sicherstellung vertreten wir die Auffassung, dass die Versorgung als „sichergestellt“ gelten muss, solange ein zuge­lassener Pflegedienst oder ein Pflegeheim mit der Versorgung beauftragt ist. Ausfallzeiten beim Pflegedienst dürfen im Ergebnis nicht dazu führen, dass unsere Betroffenen ihren Anspruch auf außerklinische Intensivpflege verlieren und in der Folge in ein (anderes) Heim umziehen müssen.

Ein weiteres Problem ergibt sich bei der Beschäftigung von Pflegehelfern in den sogenannten Arbeitgeber-Modellen. Aktuell beobachten wir ein Verfahren, bei dem eine Krankenkasse sich ihrer Leistungspflicht entziehen will mit dem Argument, „dass die Tätigkeit (Krankenbeobachtung) auch durch einen Pflegehelfer er­bracht werden könne, deshalb sei es keine Leistung der Kran­ken­kasse, sondern der Behindertenhilfe“. Das erkennende Ge­richt ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat dem Betroffenen vorerst einen An­spruch auf 24h häusliche Kran­kenpflege zugesprochen. Das Verfahren zeigt aber, auf wel­che Auseinandersetzungen wir uns zukünftig einstellen müssen.

Unsere Empfehlungen:

• Bereits jetzt zur Sicherheit eine Rechtschutzversicherung abschließen, die insbesondere Streitigkeiten vor den Sozialgerichten abdeckt.

• Sobald die Krankenkassen den Hinweis geben, zukünftig bestimmte Leistungen nicht mehr übernehmen zu wollen, Kontakt zu unserer Geschäftsstelle aufnehmen.

• Wenn der behandelnde Arzt keine Verordnungen mehr ausstellt, benachrichtigen Sie bitte auch unsere Geschäftsstelle.

Das tun wir für unsere Mitglieder:

• wir unterstützen Ihren Anwalt mit Urteilen und Beschlüssen sowie mit Rechtsgutachten und Aufsätzen.

• Wir empfehlen bei Bedarf Anwälte, die sich mit diesem speziellen Rechtsgebiet auskennen.

• Wir nehmen auf Wunsch Kontakt zu Behörden und Kammern auf, um das Problem zu schildern und um Hilfe zu erhalten.

Zusammenfassung:

Diese neue Richtlinie gibt elementare Grundrechte schwerst erkrankter Menschen auf. Sowohl das Gesetz als auch die Richtlinie bedürfen weiterhin umfänglicher Korrekturen. Unser Verband wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass die Interessen unserer Mitglieder, also der Betroffenen und deren Angehörige, berücksichtigt werden. Als maßgebliche Spitzenorganisation auf Bundesebene für den Bereich der außerklinischen Intensivpflege werden wir bei weiteren Entwicklungen der Richtlinie beim Gemeinsamen Bundesausschuss einbezogen.

Sebastian Lemme
s.lemme@shv-forum-gehirn.de