Offener Brief zu mehr Flexibilität im Pflegesystem
Er kann jeden treffen – der Hirnschaden.
Von nun an ist nichts mehr so, wie es war, ein Leben danach ist nicht vorgesehen!
Menschen mit erworbenem Hirnschaden werden plötzlich und unvermittelt aus ihrem alltäglichen und gewohnten Leben gerissen. Dabei sind bei jedem Betroffenen die aus dem Hirnschaden resultierenden Defizite anders, jedes Schicksal ist individuell. Ebenso individuell ist die Entwicklung hirngeschädigter Menschen: Sie verläuft nicht linear und ist noch weniger vorhersehbar.
Deshalb sind individuelle Lösungen zwingend notwendig!
Denn eines steht fest: Betroffene und ihre Angehörigen sind gezwungen ihr Leben komplett um- und neuzugestalten. Das Leben danach muss für diese Menschen nicht nur ertragbar, sondern auch lebenswert und schön sein. Die Frage des Wohnortes, der Wohnumgebung und die alltägliche, je nach Bedarf zu bemessende Assistenz, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Aber: Die nötige finanzielle Unterstützung für ein selbstbestimmtes, selbst ausgesuchtes und individuell strukturiertes Leben und Wohnen gibt es kaum!
Die Pflegeleistungen über Pflegedienste entsprechen nicht dem, was diese Menschen brauchen. Es geht um eine Betreuung oder besser: Assistenz, die Pflegeleistungen beinhaltet, aber nicht ausschließlich darauf reduziert wird.
Normale Pflegeheime bieten keine adäquate Unterbringung!
Ein Pflegeheim ist in den meisten Fällen keine Lösung, zumal viel zu wenige Einrichtungen für Menschen mit erworbenem Hirnschaden existieren. Menschen, die bis zu ihrer Lebensmitte normal gelebt und durch ein Unglück einen Hirnschaden erlitten haben, brauchen eine spezielle, auf sie abgestimmte Versorgung. Ihre Biografien und Bedürfnisse sind grundverschieden von Menschen mit Demenz oder von Geburt an Behinderten.
Eine mögliche Finanzierung sieht das Gesetz lediglich mit dem sogenannten „persönlichen Budget“ vor. Um das zu bekommen, muss allerdings erst einmal ein Sozialhilfeantrag gestellt werden. Im Klartext: Man bekommt erst dann eine finanzielle Unterstützung, wenn der Großteil des eigenen Vermögens aufgebraucht ist. Und das betrifft auch den Besitz der Angehörigen! Besonders schlimm sind davon die Ehepartner betroffen.
Mit dem neuen Bundesteilhabegesetz wurden zwar höhere Einkommensgrenzen beschlossen, die aber nicht für Pflegebedürftige ohne Erwerbstätigkeit gelten, was für viele unverständlich ist. Menschen mit plötzlich erworbenem Hirnschaden und ihre Angehörigen befinden sich nach der aktuellen Gesetzeslage immer noch in einer äußerst schwierigen, komplizierten, fast schon skandalösen Situation.
Die sicher notwendigen und guten Reformen des Pflegesystems greifen leider für die Menschen mit erworbenen Hirnschäden noch nicht. „Sie sind in diesem Pflegesystem nicht vorgesehen“, sagte einst Prof. Dr. Lauterbach zu einer Angehörigen und meinte genau diese Gruppe der Menschen mit erworbenem Hirnschaden.
Das neue Bundesteilhabegesetz ist kompliziert, eine funktionierende Verknüpfung mit dem Pflegegesetz bisher nicht ersichtlich. Außerdem bleibt das Problem, dass die Betroffenen nicht frei wählen können, wie und wo sie wohnen wollen.
Auch schwer Pflegebedürftige müssen ein Recht auf die freie Wohnortwahl haben!
Es darf nicht sein, dass den Betroffenen vorgeschrieben wird, mit anderen ihr Leben und ihre Betreuung gemeinsam gestalten zu müssen, um eine entsprechende Unterstützung zu bekommen. Was ist, wenn ein Betroffener sich nicht mit einem anderen das Leben oder seine Betreuung teilen möchte, da er – gerade aufgrund seiner Behinderung – lieber alleine sein will oder auch einfach gar nicht mit anderen zusammen sein kann?
Wir brauchen mehr Flexibilität bei Lösungen im Individualfall!
Nur so können passende Lebenssituationen geschaffen werden, die dem Grundsatz auf Selbstbestimmung im Grundgesetz entsprechen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass ein Mensch mit erworbenem Hirnschaden, der aufgrund seiner Beeinträchtigung eine 24-Stunden-Assistenz benötigt, zusammen mit einer Betreuung in einer barrierefreien Wohnung lebt.
Bei diesem Modell stößt der Betroffene auf zwei große Probleme: Erstens ist es beinahe unmöglich, überhaupt eine barrierefreie Wohnung auf dem freien Markt zu finden. Zweitens stellt sich die Frage, wie man eine Person, die die Pflege und Betreuung übernimmt, gesetzestreu beschäftigt?
Alleine die Behandlung dieses Themas bringt so manchen erfahrenen Steuerberater an seine Grenzen. Eine vom Gesetzgeber vorgeschlagene Pauschal-Vergütung (inkl. rechtmäßigem Vertrag mit festen Steuersetzen, Krankenversicherung etc.) für Menschen, die im Haushalt eine Person betreuen, wäre eine echte Erleichterung für die Betroffenen! Und nicht nur das: Die momentan große Zahl der illegal beschäftigten Betreuungskräfte würde sicherlich reduziert. Legen wir dieses Modell zu Grunde, dann würde eine solche individuelle Wohnsituation ca. 5.000,- € im Monat kosten.
Wir fordern von Seiten der Politik Gesetzesänderungen, die das individuelle, selbstbestimmte Leben von Menschen mit erworbenem Hirnschaden unabhängig von ihrem Einkommen und Vermögen ermöglichen.
Dazu gehört, dass der „Grad“ der notwendigen Assistenz mit einem dazu geeigneten Schlüssel berechnet wird und sich aus der daraus ergebenden Betreuungsstufe, wie jetzt schon bei der Pflegestufe, eine einkommensunabhängige monatliche finanzielle Unterstützung ergibt – eben ein echtes passendes „persönliches Budget“, das den Namen auch verdient.
Außerdem muss dieses Geld flexibel ausgehändigt werden, u.U. auch direkt an die Betroffenen. Warum? Man kann es nicht oft genug zum Ausdruck bringen: Jedes Schicksal ist sehr individuell geprägt und benötigt deshalb auch eine ebensolche individuelle Lösung!
Wir brauchen ein faires Gesetz mit klaren Regeln, in dem festgeschrieben wird, was einem Menschen mit Behinderung aufgrund eines erworbenem Hirnschadens zusteht, bemessen an seinem Pflegbedarf, ohne den Zugriff auf das Vermögen der Angehörigen.
Die Betroffenen und Angehörigen, die mit ihrem persönlichen Engagement und einem immensem Kostenaufwand ein lebenswertes und angemessenes Zuhause gestalten, müssen finanziell entlastet werden.
Um all das zu erreichen, muss die Eigenständigkeit und Selbstinitiative der Betroffenen vom Staat beziehungsweise den Pflege- und Krankenkassen mehr gefördert werden. Denn nur dann ist ein echtes selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen tatsächlich möglich.
Susanne Rauprich für den Verein „Leben danach“ e.V.