Lebensqualität für Menschen im Wachkoma – können wir sie verordnen?

Hoffnungsvoll schauen wir uns um und suchen etwas, wovon wir selber vielleicht noch gar nicht wissen was es ist. Wir sind betroffen von dem was im Allgemeinen als Schicksalsschlag bezeichnet wird. Wir suchen nach Ideen, die wir noch gar nicht erfasst haben. Wir wollen fragen und wissen noch gar nicht welche Fragen für uns wichtig sind. Wir wissen aber eines ganz gewiss – für unseren Angehörigen soll alles getan werden, damit er gesund wird und dass es ihm gut geht – es soll ihm gut gehen!

Wachkoma – ein Begriff der Angst einflößt. Als Angehöriger hören wir es zum ersten Mal. „Ihr Angehöriger befindet sich im Wachkoma!“ Der Schreck fährt den Angehörigen in die Glieder und was bedeutet es jetzt konkret. Also im Internet gesucht, ein Buch gekauft, den Arzt gefragt und so richtig bekommen wir  wenige und doch viele Antworten. Noch mehr Fragen stellen sich den Angehörigen, wenn die Pflegekräfte das eine, die Therapeuten das andere und der Hausarzt eine dritte Meinung vertritt. Es ist alles dabei – Angst die aufkommt, Hoffnungen die schwinden bis hin zu „Das wird sowieso nichts mehr!“  Vor allem das Durcheinander von Begrifflichkeiten, Meinungen, Möglichkeiten usw. macht uns Angst. Wir wollen doch aber Hoffnung schöpfen für unseren Betroffenen aber auch für uns als Angehörige.

Professor Dr. W. Nacimiento beschreibt in seinem Referat auf dem Symposium in Köln: „Das apallische Syndrom ist einer aktuellen, von Experten formulierten Definition zufolge eine Bewusstseinsstörung, bei der willkürliche Reaktionsfähigkeit aufgehoben und eine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit der eigenen Person und der Umwelt nicht möglich ist. Die Wachheit ist jedoch erhalten, daraus resultiert das häufig verwendete Synonym „Wachkoma“.

Im März 2010 wurde im NDR 3 bei „Visite“ ein Beitrag zum Wachkoma ausgestrahlt, in dem mit Prof. Dr. med. Andreas Zieger ein Gespräch geführt wurde. Dabei stellte Professor Zieger fest, dass ca. 30 – 40 % Fehldiagnosen gestellt werden. Erschreckend!  Auf die Frage wie es zu solchen Fehldiagnosen kommen kann führt er folgendes an: „Ja, das sind wahrscheinlich viele Gründe. Einmal die Unerfahrenheit der Ärzte, denn die Krankheitsbilder Locked-in-Syndrom (LIS) und auch Wachkoma sind sehr selten und es gibt auch Fälle die ineinander übergehen, also es ist die Abgrenzung objektiv auch mit besten medizinischen Untersuchungsmethoden oft schwierig und das ist ja nun an diesem tragischen Beispiel (Rom Houben 23 Jahre im Wachkoma behandelt, dann LIS diagnostiziert) auch erlebt worden. Es ist ganz wichtig, dass die Fachleute früh auf die Beobachtungen der Angehörigen hören und dem auch konsequent nachgehen und es ist wichtig, dass die in den Pflegeheimen und zu Hause liegenden Wachkomapatienten auch nachuntersucht werden. Dass man also aktiv sucht – sind da Bewusstseinsinseln:“

Wohlfühlen möchte ich mich, kann ich mich wohlfühlen wenn doch mein Angehöriger im Wachkoma liegt? So stellen sich viele Angehörige die Fragen und vielleicht kommen sie zur Erkenntnis – eigentlich  ja! Ist es nicht ein Widerspruch zur gegenwärtigen Lage?  Zur Klärung  ist es sehr wichtig sich mit der augenblicklichen Situation auseinander zu setzen. Die Auseinandersetzung darf nicht damit beginnen die Frage nach dem „Warum er – warum wir?“ aufzuwerfen. Da werden sie keine Antwort bekommen. Auch nach dem „Was wird wohl werden?“, wird es  keine Antwort geben. Hier gibt es eine klare Option die darin besteht, die zurzeit gegebene Situation zu akzeptieren und sich den zeitnahen Aufgaben (z.B. Tagesaufgaben) zu stellen. So beginnen sich  die Angehörigen zielgerichtet und individuell mit der Situation auseinanderzusetzen und  versuchen sich  auch möglicherweise mit kleinen Schritten  einzubringen. So merken wir als Angehörige, dass wir nicht nur gebraucht werden, sondern dass wir für den gesamten Genesungsverlauf wichtige Bezugspersonen sind. 

Sehen, hören, reden das sind die ersten Schritte, das Ausmaß des Geschehenen an uns heranzulassen und dann vielleicht zu verstehen. Bei allem was wir als Angehörige  versuchen, steht unser  betroffenes Familienmitglied im Mittelpunkt unserer Gedanken. Es ist sehr wichtig zu sehen, zu beobachten und dann das  Gesehene im Zusammenhang zu betrachten. Dabei gilt auch zu sehen was passiert wenn miteinander kommuniziert  wird. Wer spricht über wen oder vielleicht doch mit wem? Zuhören heißt das Problem herauszuhören. Was sollte die Botschaft sein? War es eine Frage oder eine Aufgabe oder gar eine kritische Bemerkung?

Miteinander diesen Abschnitt des Lebens zu gestalten ist sehr wichtig. Dabei ist zu verstehen, dass nicht der Angehörige im Mittelpunkt steht, sondern der Betroffene. Im Wachkoma zu leben ist eine eigenständige Lebensform. Sich mit dieser Lebensform auseinanderzusetzen ist unabdingbar für das Verständnis der Lebensqualität der Betroffenen. In dem Maße wie es uns als Angehörige gelingt Verständnis für die Lebensform zu entwickeln, in dem Maße entwickeln wir auch die Fähigkeit für den Menschen im Wachkoma die richtigen Entscheidungen zu treffen. Aber es muss verstanden werden, dass dieses Verständnis auch für alle professionellen Dienstleister zutreffend sein muss! Unser Bestreben liegt in den Maßnahmen, die das Lebensgefühl, das Wohlfühlgefühl des Individuums positiv beeinflussen sollen. Da müssen wir an die  Gestaltung einer Tagesstruktur denken, da sind es die Töne beim Kommunizieren, da haben wir auf die Gefühle, auf das Geborgensein und auf die  Sicherheit unserer Betroffenen zu achten. Auf keinen Fall dürfen wir die aktivierenden Maßnahmen  während der Pflege und im Verlaufe der Tagesstrukturen vergessen. Es kommt darauf an zu sehen was zu tun ist, zu hören was uns erreichen soll und zu reden über was zu reden ist. Sich den Betroffenen zuzuwenden ist sehr entscheidend für das Erkennen der Situation und den sich daraus ableitenden  Maßnahmen. Lebensqualität  können sich unsere Betroffenen nicht allein verordnen und leben.Deshalb tragen wir die Verantwortung und müssen diese auch wahrnehmen.
Verordnen wir uns selber die für den Betroffenen individuelle Lebensqualität zu gestalten. Das lässt sich nicht mit einer durch den Arzt ausgeschriebenen Verordnung realisieren. Es lässt sich nicht realisieren, wenn in der Pflege das Maß der Aufgaben in Verbindung mit der Uhr (Zeit) im Vordergrund steht. Schon gar nicht lässt sich die Lebensqualität des Menschen im Wachkoma gestalten, wenn wir nicht erkennen, dass alle Entscheidungen individuell auf den Betroffenen zugeschnitten sein müssen. Der Mensch steht im Mittelpunkt allen Handelns, das muss der Maßstab aller Entscheidungen sein.

Schon 1949 wurde durch die WHO-Definition in Anlehnung an die Lebensqualität formuliert: „Gesundheit umfasst das körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden einer Person. Dabei trägt eine ausreichende bis gute Lebensqualität wesentlich zur subjektiv wahrgenommenen Lebenszufriedenheit bei“.

Lassen wir uns doch leiten von wichtigen Elementen in der Begleitung von Menschen im Wachkoma. Prof. Christel Bienstein sprach in einem Vortrag im Jahr  2006 von Gleichberechtigung – Transparenz – Wertschätzung. Wir müssen ihr Recht geben, denn wir, die Angehörigen, möchten ja begleiten, Sicherheit und Vertrauen ermöglichen.  Wir wollen dass die Menschen ihren eigenen Lebensrhythmus spüren – und sehr wichtig –  teilhaben am Leben und unserer Gemeinschaft. 

Lebensqualität erfordert unsere Unterstützung

Versuchen wir uns doch auf die Ebene des Menschen im Wachkoma einzulassen. Begeben wir uns auf Augenhöhe mit ihnen und lassen wir sie doch spüren, dass wir für sie da sind. Wenn wir begreifen, dass wir sie unterstützen müssen, dann fällt es uns leichter Maßnahmen anders zu beurteilen. Hier haben wir die  Selbstbestimmung, auch von Menschen im Wachkoma an vorderster Stelle zu sehen. Das heißt die Rolle der Angehörigen bekommt eine neue, sehr wichtige und tragende Dimension. Deshalb müssen alle Angehörigen Forderungen artikulieren wie

– raus aus dem Bett
– ab in die Natur (Garten, Spaziergang)
– körperliches Wohlbefinden (Hygiene, Duschen)
– angemessene Kleidung und 
– das Leben – leben lassen.

Lebensqualität erfordert aber  professionelle und erworbene Kompetenz. Lassen wir zu, dass wir miteinander kommunizieren über

– theoretisches Wissen und praktische Erfahrungen
– praktische fachbezogene Fähigkeiten
– Qualität bei der Umsetzung teilhabeorientierter Pflege und Therapie
– Mut und einen klaren Kopf um mit dem Menschen im Wachkoma (und anderen schwer -schädelhirnverletzten Menschen) und deren Angehörigen umzugehen

Zusammenfassend lässt sich formulieren, der Mensch im Wachkoma bedarf unserer ungeteilten Aufmerksamkeit und verlangt von allen Hilfe, Unterstützung und eine sehr individuelle Zuwendung. Wir müssen erkennen und respektieren, der Mensch im Wachkoma

– ist gleichwertig und gleichberechtigt
– besitzt individuelle Kompetenz und umsetzbare Potenziale
– benötigt sofortige Förderung (lebenslange Begleitung)
– es geht immer vordergründig um die Bedürfnisse des Wachkomapatienten nach Lebensqualität

Es gilt kein Leistungsprinzip nach Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit. Es darf nicht nach dem Prinzip „Preis – Leistung“ gehen.
Auch zukünftig haben wir uns gemeinsam um unsere hilfe- und pflegebedürftigen Menschen  zu kümmern. Lassen Sie uns aus diesem Grunde mehr tun. Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, für  die Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen, z. B. Menschen im Wachkoma zu kämpfen, dass ihnen auch in Zukunft die Chancen  für ein Leben in hoher Lebensqualität garantiert werden kann.

Lothar Ludwig

image_pdfPDFimage_printDrucken